Harmonie gewinnt

Der Wettbewerb „Great Place to Work“ zeichnet Unternehmen für herausragende Arbeitsbedingungen aus. Die Beispiele der Gewinner zeigen: Personaler brauchen feine Antennen.

Zu mehr beruflicher Bildung im Eiltempo – der Sensorhersteller Sick AG nimmt das durchaus wörtlich. Denn obwohl das neue Weiterbildungszentrum im baden-württembergischen Waldkirch von der Firmenzentrale nur einen kurzen Spaziergang entfernt ist, stellt Sick einen Shuttleservice bereit. Das Kursangebot samt Chauffeur-Option wird gut genutzt. 3000 Weiterbildungen wurden seit Dezember 2021 absolviert, die fast 30 Trainingsräume sind auf zwölf Monate ausgebucht. Nicht nur mit der topmodernen Akademie wertet Sick die Arbeitsplätze auf. Vor einem halben Jahr zog die Produktion vom Standort Reute in eine größere Halle in Freiburg-Hochdorf. Und für diesen Monat steht der Spatenstich für ein neues Bürogebäude in Waldkirch auf dem Plan. „Die Räume sind anpassbar an die Bedürfnisse unserer Mitarbeitenden und Teams“, sagt Nicole Kurek, Vorständin People & Culture bei Sick. „Rückzugsmöglichkeiten und Raum zum Denken sind genauso eingeplant wie offene, gestaltbare Flächen.“ Ihr Grundgedanke bei alldem: „Ein guter Arbeitgeber bildet einen Einklang zwischen Menschen, Unternehmenskultur und dem Arbeitsort.“ Beim Team kommt dies offensichtlich gut an. Beim diesjährigen Wettbewerb „Great Place to Work“ belegt Sick in der Kategorie der Unternehmen mit mehr als 5000 Mitarbeitern den dritten Platz. Nur Adesso und die Allianz schnitten besser ab.

Dass Kurek den Posten als oberste Personalerin mit der „Culture“-Note im Juli 2022 übernahm, kennzeichnet auch den grundsätzlichen Wandel im Personalwesen. Denn das Feld der Fachleute für Human Resources (HR) wächst über die einstigen Hauptaufgaben Recruiting und  Personalplanung hinaus. In Zeiten des Fachkräftemangels bekommt Personalarbeit zunehmend größere Bedeutung. „Zentrale Aufgabe ist es zuzuhören, was seitens der Beschäftigten für ein erfolgreiches und gesundes Arbeiten gebraucht wird, und abzustimmen, was umgesetzt werden kann“, sagt Frank Hauser, Geschäftsführer bei „Great Place to Work“. Die Unternehmenskultur weiterentwickeln, neue Arbeitsformen einführen – das steht auch auf Nicole Kureks To-do-Liste. Auch die HR-Fachleute des Münchener IT-Dienstleisters Metafinanz Informationssysteme erkennen ein verändertes Rollenbild. „Viel mehr als früher geht es darum, sich in die Situation der Beschäftigten zu versetzen und für sie neue Arbeitsmodelle zu entwickeln“, sagt die HR-Verantwortliche Ruth Nuber. „Für Mitarbeiter ist wichtig: Wie erlebe ich das Miteinander, wie erlebe ich die Organisation?“ Metafinanz schaffte im Wettbewerb den Sieg bei Unternehmen mit bis zu 2000 Beschäftigten. Gesundheit hoch im Kurs Die Pandemie hat den Blick der Personaler für Befindlichkeiten geschärft. 72 Prozent von ihnen schenken der „Employee Experience“, also der Mitarbeiter-Wahrnehmung, mehr Beachtung als vor Corona. Das ergab eine Studie der Marktforschungsplattform Qualtrics. Aktuell fragten Kandidaten häufig nach Angeboten für Mitarbeitergesundheit, hat Ruth Nuber bei Metafinanz beobachtet. Das Unternehmen geht darauf ein und hat im Sommer 15 Mitarbeiter in je zwölf Stunden zu Ansprechpartnern für Beschäftigte bei mentalen Problemen ausgebildet – eine Art Mental-Health-Ersthelfer. Das Wohlergehen der eigenen Kräfte stellt auch der Stuttgarter Software-Anbieter Vector in den Fokus der HR-Maßnahmen. Zu den Annehmlichkeiten zählen zum Beispiel eine Dusche für Rad-Pendler, eine Ergonomieberatung und eine Kantine, gemanagt vom Baiersbronner Luxushotel Traube Tonbach, in dem sich gleich zwei Michelin-Sterne-Restaurants befinden. HR-Leiter Marcell Amann betont indes, dass derartige Vergünstigungen nur der zweite Schritt einer erfolgreichen HR-Arbeit sind. „Wir brauchen hier die Besten der Besten aus der Software-Entwicklung“, sagt er. Doch mit Vergünstigungen allein locke man die Kandidaten nicht. „Wichtiger ist eine gelebte Kultur des Miteinanders in einer agilen, hierarchiearmen Struktur.“ Die Geschäftsführung lädt deshalb jeden Freitag zu einem zwanglosen Umtrunk. Türen stünden auch in der Chefetage für jedermann offen, sagt Amann. Duzen ist in der kompletten Firma Pflicht. Als Recruiter fing Amann 2001 bei Vector an, heute unterstützen ihn vier Kolleginnen und Kollegen, die sich ausschließlich dieser Aufgabe widmen. Weil so viele IT-Kräfte in Deutschland fehlen, habe sich auch sein Job geändert. „Für uns ist es wichtiger geworden, das eigene Unternehmen bekannt zu machen“, sagt Amann. IT-Fachkräfte führen die Rangliste der gefragtesten Zielgruppen für Recruiter an. In einer Studie der Deutschen Gesellschaft für Personalführung sehen 69 Prozent der befragten Personalverantwortlichen die IT-Experten ganz vorne. 46 Prozent richten besonderes Augenmerk auf Finanzexperten und Controller, 38 Prozent auf Ingenieure. Vector stehe in diesem Konkurrenzkampf in der Region im direkten Wettbewerb mit Traditionsmarken wie Porsche, Mercedes und Bosch. Dennoch könne sich sein Unternehmen beim Werben um die Experten behaupten. „Fachkräfte kommen gerne zu uns, weil wir spannende, zukunftsweisende Themen bearbeiten und auf die Bedürfnisse der Kandidaten eingehen“, sagt Amann. Das Bild von Kandidaten, die froh sein können, einen Job ergattert zu haben, existiert nicht mehr. „HR und Kandidaten befinden sich auf Augenhöhe. Überheblichkeit wäre toxisch“, sagt Amann.

Handelsblatt Spezial: Deutschlands beste Arbeitgeber, WOCHENENDE 24./25./26. MÄRZ 2023, NR. 60